Drucken

Ein Holzpferdchen als Weihnachtstraum

Bertram Schauer, einer unserer Museumsaufsichten, hat im Holzschaukelpferd in Raum 113 des Stadtmuseums sein Lieblingsstück gefunden. Warum ihm gerade das Holzpferdchen so am Herzen liegt, begründet er so: 

„Die ersten Überlieferungen über Schaukel- oder „Ziehpferdchen“ stammen aus dem 17. Jahrhundert aus den USA. Der Vorläufer unserer beliebtesten Schaukeltiere waren der Vermutung nach Pferde auf Rollen, die kleine Kinder hinter sich herziehen oder auf die sie aufsitzen konnten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts und in der Zeit nach dem 2. WK wurde das Schaukelpferd auch zum Symbol für Wohlstand und eine gute Erziehung. Früher stand das Schaukelpferd als Symbol für unerfüllbare Wünsche an Weihnachten. So auch bei mir, jedesmal wenn ich dieses Pferdchen sehe, kommen frühere kindliche Weihnachten in meine Erinnerung. Schöne Weihnachten mit sämtlicher Wunscherfüllung und Weihnachten mit Tränen, wenn das ersehnte Spielzeug nicht unter dem Baum lag. So war das!“

 

 

Das in unserem Stadtmuseum ausgestellte Schaukelpferdchen ist wirklich ein Prachtexemplar. Seine Bemalung weist es als Apfelschimmel aus. Aufmerksam spitzt es seine Ohren. Offensichtlich wartet es nur darauf, dass ein wilder Reitersmann seinen Sattel besteigt, die Zügel in die Hand nimmt laut „hüh!“ ruft und auf ihm davonreitet. Gut vorstellbar, dass es in der Familie von Matthias Kögel, der es unserem Museum geschenkt hat, ein langersehnter Weihnachtswunsch war. In unserem Inventarverzeichnis ist dazu vermerkt, dass die Kufen unseres Pferdchens fehlen. Es konnte also ursprünglich zum Schaukeln oder zum Ziehen benutzt werden. Und die fehlenden Kufen deuten darauf hin, dass es ausgiebig benutzt wurde.

Dass Kinder spielen dürfen und dafür speziell hergestelltes Spielzeug nutzen, ist noch gar nicht so lange selbstverständlich. Bis ins 18. Jahrhundert wurde die Kindheit lediglich als eine Vorstufe des Erwachsenendaseins angesehen und die Kinder wie noch unvollkommene Erwachsene behandelt. Sie sollten möglichst rasch ins Arbeitsleben eingegliedert werden – Zeit zum Spielen war da eigentlich nicht vorgesehen. Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts wuchs die Erkenntnis, dass das kindliche Bedürfnis zum Springen, Spielen und Laufen zum Wesen seiner Entwicklung gehört. Ab da fanden kostbare Spielsachen den Weg in bürgerliche Kinderstuben, die heute noch in verschiedenen Museen bestaunt werden können. Zeit zum Spielen war im 19. Jahrhundert ein Luxus, über den nur die Kinder wohlhabender Familien verfügten. Damals unterschieden sich die Erziehungsziele für Mädchen und Jungen deutlich voneinander. Die Mädchen wurden auf ein Leben in Häuslichkeit vorbereitet, die Buben auf ihre spätere Rolle als Ernährer einer Familie und auf eine spätere Tätigkeit in Wirtschaft, Politik oder beim Militär. Dies spiegelt sich auch in den bürgerlichen Spielzeugen der damaligen Zeit: Während Mädchen mit Puppen, Puppenstuben und Kaufläden auf ihre zukünftige Rolle in einem Haushalt vorbereitet wurden, spielten die Buben mit Kutschen, Wagen, Bauernhöfen, Zinnsoldaten und Eisenbahnen.

Auch Kinder vom Land oder aus Arbeiterfamilien hatten Spielzeug – aber wegen der weit verbreiteten Kinderarbeit viel weniger Muße zum Spielen. Ihre oft selbstgemachten Spielzeuge wie Lumpenpuppen, Holzrasseln, die mit Kieselsteinen oder getrockneten Erbsen gefüllt waren, Stelzen, Blasrohre aus Zweigen oder Holzreifen wurden benutzt, bis sie zerbrachen oder auseinanderfielen. In unseren Museen sind sie daher fast nie zu finden.

Um wieder auf unser Schaukel-/Räderpferd zurückzukommen: In einer Zeit, als das Pferd das vorherrschende Fortbewegungsmittel war, wünschten sich die Kinder nichts sehnlicher als ein stolzes Schaukelpferd oder einen Rädergaul, auf den sie selber aufsitzen konnten. Spielzeug-Fahrzeuge hielten immer Schritt mit der tatsächlichen Entwicklung der verschiedenen Fortbewegungsmittel in der Erwachsenenwelt. So folgten auf die Pferde und Kutschen in den Kinderzimmern bald Eisenbahnen, Autos, Flugzeuge und Raumschiffe. Unser Schaukelpferd ist freilich ein Dauerbrenner geblieben, den kleine Kinder auch noch in unserer motorisierten Welt lieben. Kinder lieben Tiere und die Bewegung – und beides verkörpert perfekt das Schaukelpferd. Uns Erwachsene dagegen erinnert das Schaukelpferd auch an „die gute alte Zeit“, als das Digitale noch nicht unser Leben bestimmte. Ob aus Nostalgie oder aus dem Wunsch nach einem wilden Schaukelritt, das Schaukelpferdchen ist nie aus der Mode gekommen.

Text: Kornelia Hieber

Heimatverein Marktoberdorf

 

Literatur:

Bayerisches Nationalmuseum (Hg.); Gockerell, Nina:

Die Welt im Kleinen. Zur Kulturgeschichte des Spielzeugs,

München 2003.

Click to listen highlighted text! Powered By GSpeech